Im Bann des Zuckers

„Diabetes ist doch heute kein Problem mehr.“ Aber seit seine Tochter darunter leidet, weiß Michael Cleven: Im Familien-Alltag ist das höchstens die halbe Wahrheit.

Ständige Angst

„Der Blutzucker ist schon wieder über 300, das ist doch nicht möglich! Denk doch mal an die Folgen! Was hast du denn Falsches gegessen?“
Das sind gängige Vorwürfe und Verdächtigungen, die unsere elfjährige Tochter Tabea mindestens einmal in der Woche von uns, meiner Frau und mir, zu hören bekommt. Ausdruck unserer Hilflosigkeit, wenn sich ihr Diabetes nicht an unsere Berechnungen von Kohlehydraten und Insulineinheiten hält. Und unserer Angst, dass die hohen Zuckerwerte ihre Organe verkleben und zum Erblinden oder Nierenversagen führen könnten.
Dabei hatten wir ein gutes Gefühl und viel Erfahrung mit einer chronischen Krankheit.
Tabea, gerade fünf Monate alt, fing während eines Urlaubs auf einem Bauernhof mit allen möglichen Tieren eine Sommergrippe ein; zumindest war das unsere erste Diagnose. Als die Atmung immer schneller ging und der Husten immer schlimmer wurde, bestätigte der Kinderarzt unseren Verdacht, dass irgendetwas mit unserer ökologischen Unterkunft nicht in Ordnung sein könnte. In der nächsten Nacht machte die ganze Familie vor lauter Husten, Keuchen und Nach Luftringen kein Auge zu, und wir wussten keinen Ausweg mehr, als um 4.00 Uhr morgens in die 80 km entfernte Kinderklinik zu fahren. Diagnose: Asthma – mit der wenig tröstlichen Information, bis zum Mittag hätte unsere Tochter ihren Kampf um Luft nicht mehr durchgestanden.

In den folgenden Wochen und Monaten hatten wir viel zu lernen

Unsere Wohnung haben wir komplett saniert und den Hausstaubmilben den Krieg erklärt. Jedes Jahr ging der Urlaub für die sechswöchige Asthma-Kur in der Schweiz drauf. Aber es half. Allmählich wurden die Anfälle weniger, das täglich vier- bis fünfmalige Inhalieren reduzierte sich auf zweimal und ging in die Routine des Tagesablaufs ein. Zum Problem wurde die Krankheit nur noch bei der Frage, warum Tabea trotz Bitten und Betteln kein Haustier haben durfte – wo doch die Freundinnen wenigstens ein Kaninchen besaßen.
Wie eine Bombe schlug dann das Ergebnis der Blutuntersuchung in der Asthma-Kur vor drei Jahren ein. Wir wollten gerade unseren Besuch in der Kinderklinik beenden, da kam die Nachricht aus dem Labor, wir sollten noch einen Moment warten: „Irgendetwas stimmt mit den Blutwerten nicht.“ Die Wartezeit vertrieben wir uns mit Minigolfspielen hinter der Klinik, immer wieder abgelenkt von allen möglichen Befürchtungen. Dann stand die Diagnose fest: Tabeas Zuckerwerte waren gigantisch überhöht, alle Anzeichen deuteten auf Diabetes im Endstadium hin. Einen Moment später lagen wir uns weinend in den Armen. „Reicht denn eine Krankheit nicht?“ Auf die Frage nach dem Sinn haben wir bis heute keine Antwort gefunden.

Inhalieren, messen, spritzen

Akutbehandlung in einer weiteren Kinderklinik. Einstellung auf Insulin. Diabetesschulung für die Eltern. Umstellung des Essens. Aufbau eines Sicherungsnetzes für den Fall von Unterzuckerungen in der Schule, bei Freundinnen und unterwegs. Und neben das tägliche Inhalieren trat jetzt das Messen des Blutzuckers, das Insulinspritzen und die andauernde Besorgnis, wie es Tabea im Moment geht.
„Ach, Diabetes! Das ist doch heute gar kein Problem mehr. Damit kann man gut leben und ganz normal alt werden!“ Klar ist die Behandlung in den letzten Jahrzehnten besser und differenzierter geworden, verspricht eine gute Einstellung Schutz vor Folgeschäden. Trotzdem ärgern uns diese Beschwichtigungen; sie kommen meist von Leuten, die sich damit die Last und die Konfrontation vom Hals halten. Es interessiert dann auch nicht, dass es bei manchen Patienten keine gute Einstellung geben kann, weil ihr Erbgut nicht mitmacht. Oder welche Anspannung und welcher Stress hinter der dauernden Kontrolle des Verhaltens unserer Tochter steht.

Die Tücken der guten Tipps

„Machen Sie die Krankheit und die Disziplin nicht zum Thema in der jugendlichen Ablösung vom Elternhaus“, war die (an sich richtige) Empfehlung der Ärztin. Also keinen Machtkampf aufkommen lassen, wenn Tabea statt sechs- nur viermal am Tag gemessen hat. Entscheiden, ob ich gelassen über den Geburtstagskuchen bei der Freundin hinwegsehe oder deren Mutter eine Einführung in die Zusammenhänge menschlicher Ernährung aufzwinge mit der Folge, dass Tabea im nächsten Jahr einen Kindergeburtstag weniger mitfeiern darf.

„Verhalten Sie sich so normal wie möglich. Räumen Sie der Krankheit nur so viel Raum in der Familie ein wie nötig!“ Auch das ein richtiger Tipp – soweit die Kraftreserven und die eigene Gesundheit dies zulassen. Mehr als einmal standen wir davor, dass meine Frau ihre Berufstätigkeit aufgibt, weil das nächtliche Messen und Kontrollieren, die Mitteilungen an die Lehrer und die Grundanspannung, bei allem Wohlwollen des Umfeldes, ihre Kräfte überforderten.

Vor 80 Jahren bedeutete die Diagnose Diabetes unweigerlich den qualvollen Tod. Durch die intensivierte Therapie in Westeuropa ist das Gott sei Dank anders. Noch – angesichts der Gesundheitsreform, die uns in diesem Jahr zum ersten Mal zwingt, die Kosten für die Kur allein zu tragen. Gibt es in zehn oder fünfzehn Jahren noch Raum für ein „normales“ Leben als Schwerbehinderte?
Nein, „normal“ ist unser Zusammenleben in der Familie nicht. Zu tief hängt die Angst vor den Folgekrankheiten, die uns bei jeder Kontrolluntersuchung den Atem anhalten lässt. Und die Aussichten werden nicht besser.

Michael Cleven